Gedankliche Konzepte

Forscher der Harvard University versuchten einen Einblick in das Weltverständnis von Tauben zu gewinnen und stellten deshalb Tauben die Aufgabe, Dinge zu kategorisieren. Dazu zeigten sie den Tauben Fotografien und die Tauben betätigten mit ihrem Schnabel verschiedene Schalttasten, um gegen eine Belohnung mitzuteilen, welche Art von Referenzobjekt sie auf einem Foto entdeckten. Würden die Tauben sich überhaupt konzentrieren können und gezielt Details aus den Bildinformationen herausselektieren können? Was wissen Tauben über die Natur der Dinge?
Eine Testreihe umfasste jeweils ca. 1500 Fotos, welche die Tauben betrachteten und einordneten. Sie sollten z.B. angeben, ob sich ihrer Meinung nach Wasser oder ein Baum auf einem Foto befindet. Um dies beantworten zu können, mussten die Vögel sich bewusst sein, was sie sahen, und im Kopf behalten, was von ihnen gefragt wurde. Dabei wurden ihnen auch schwierige und uneindeutige Fotos gezeigt, welche Verwechslungsmöglichkeiten beinhalteten oder den gesuchten Gegenstand nur verborgen oder größtenteils verdeckt zeigten. Die Tauben meisterten die Aufgabe sehr gut. Genauso treffsicher wussten sie, ob eine bestimmte Person auf einem Foto zu sehen ist oder nicht, denn sie konnten jemanden Bekanntes von anderen Personen unterscheiden. Dies erfordert eine ganze Reihe von Fähigkeiten: Die Tauben erinnerten sich sowohl an die speziellen Merkmale der Person, als auch an ihre eigene Aufgabe, bei der sie zielorientiert vergleichen und unterscheiden mussten, um die Aufgabe zu lösen, um eine Belohnung zu erhalten, d.h., die Tauben waren in der Gegenwart motiviert, weil sie in die Zukunft denken konnten.
Die Auswahl der Fotografien zielte darauf, zu zeigen, anhand welcher Konzepte die Tauben unterscheiden. Das Ergebnis war, dass die Tauben eine sehr komplexe Vorstellung von den Dingen besitzen und man ihre Beurteilungen nicht auf einzelne Eigenschaften einschränken kann.
Für Tauben muss beispielsweise nicht alles, was grün ist und Blätter hat, ein Baum sein, und sie erkennen einen Baum auch als Baum, wenn er nicht grün ist und keine Blätter hat. Genausowenig hängt das Urteil einer Taube davon ab, ob eine vertikale Ausrichtung vorhanden ist oder ob Äste vorhanden sind. Eine Sellerie-Stange, die wie ein Baum fotografiert wird, hält keine Taube für einen Baum. Wenn dagegen auf einem Foto von einem Haus am oberen Bildrand ein paar Äste hervorluken, weiß die Taube, dass das auf einen (nicht sichtbaren!) Baum hinweist.

Bemerkenswert ist auch, dass die Tauben genau die Aufgaben leicht fanden, welche auch Menschen leicht fanden. Genauso fiel den Vögeln die Unterscheidung in den selben Fällen schwer, in denen auch den menschlichen Probanden die Unterscheidung schwer fiel. Das deutet daraufhin, dass die mentale Konzeptualisierung bei Menschen und Tauben sehr ähnlich funktioniert. Genau wie für den Menschen gibt es für die Tauben eindeutige Fälle, die besonders viele entscheidende Merkmale vereinen, oder welche der prototypischen mentalen Repräsentation besonders nahe kommen und uneindeutige Fälle, bei denen die Merkmale nur undeutlich zu erkennen sind oder es sich um fließende Übergänge zwischen Kategorien handelt wie z.B. zwischen Busch und Baum (fuzzy categories).

In einer späteren Studie von der University of Iowa wurde überprüft, ob die Tauben vielleicht nur natürliche Dinge von hoher Relevanz für ihr tägliches Überleben konzeptualisieren können. Doch es stellte sich heraus, dass die Tauben in ihren Fähigkeiten nicht auf bestimmte Objekte eingeschränkt sind. Die Tauben waren in den neuen Testreihen genauso kompetent darin, Menschen, Blumen, Autos und Stühle zu identifizieren.
Wiederum andere Tests, die sich nur mit Farben und Formen beschäftigten, belegten, dass Tauben auch mit abstrakten Kategorien bewusst umgehen können.

Diese mentale, semantische Kompetenz könnte eine der Wirbeltier-Grundlagen für die Sprachproduktion bilden. Der Graupapagei Alex hat gezeigt, dass er auf seine mentalen Konzepte von Objekten, Farben, Form, Anzahl etc. mit sprachlichen Äußerungen Bezug nehmen kann. (Vgl. den Menüpunkt >Kommunikation)

Vgl. "Natural Concepts in Pigeons", Journal of Experimental Psychology: Animal Behavior Processes, 1976.
"The conceptual abilities of pigeons", American Scientist 83: S. 246-55, 1995.


Eine Studie am C. und O. Vogt Institut für Hirnforschung (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) hat auch für Hühner die Kategorisierung und Unterscheidungsfähigkeit von geometrischen Figuren nachgewiesen.

Vgl. "Categorization of multidimensional geometrical figures by chickens", Animal Cognition, Mai 2001
Die Kunst der Unterscheidung

Ein besonders interessantes und unkonventionelles Experiment wurde an der Keio University in Tokyo unternommen.

Einer Gruppe Tauben und einer Vergleichsgruppe von Menschen wurde die Aufgabe gestellt, Gemälde von Van Gogh und Marc Chagall zu unterscheiden.
Den Tauben wurden jeweils vier Bilder eines der Künstler zum Kennenlernen gezeigt, z.B. von Van Gogh "Sonnenblumen" und "Straße mit Zypresse und Sternen". Die Tauben lernten sicher zu unterscheiden, ob ein Bild von Van Gogh oder Chagall stammte. Dies gelang den Tauben auch problemlos bei Bildern, die sie noch nie zuvor gesehen hatten.
Sie bewältigten die Aufgabe sogar bei Schwarzweißabbildungen der Gemälde oder teilweise verdeckten Bildern, woraus sich zeigt, dass die Tauben den Stil der Künstler nicht nur anhand der Farbigkeit oder der Gesamtkomposition auseinanderhalten konnten, sondern über viele Anhaltspunkte verfügten.
Als eine weitere Verfremdungsmethode wurde versucht, über das Bild ein Mosaik zu blenden. Bei einem Raster von 31,4 / cm² und 7,8 / cm² schnitten menschliche Versuchspersonen genauso gut wie die Tauben darin ab, die Bilder nach ihrem Künstler zu unterscheiden. Je kleinteiliger das Raster, desto schwerer fiel es Menschen und Tauben, noch unterscheiden zu können, denn das Bild wurde zunehmend unkenntlicher (bis 0,5 /cm²).


Vgl. "Van Gogh, Chagall and pigeons: picture discrimination in pigeons and humans", Animal Cognition, Oktober 2001
Text