In Erwartung der Zukunft

Einer der größten Vorteile, den hochentwickelte Tiere besitzen, ist ihre Fähigkeit Erfahrungen zu sammeln. Indem sie sich erinnern, was sie in der Vergangenheit erfahren haben, machen sie den selben Fehler nicht noch einmal.

Wenn zum Beispiel eine Kuh einen Schlag an einem Elektrozaun erhält, so vermeidet sie in Zukunft für immer die Berührung mit dem Zaun. Mehr noch, die anderen Kühe, die den Vorfall beobachtet haben, erkennen den Zusammenhang zwischen dem Schmerz, den die andere Kuh empfindet, und dem Zaun und meiden diesen, auch ohne niemals selbst dieses schmerzhafte Erlebnis machen zu müssen. Sie können also auch lernen, indem sie Erfahrungen von anderen auf sich selbst übertragen und sich merken.

Haben Tiere ein anderes Tier getroffen und kennen gelernt, einen Ort erkundet, einen Zusammenhang verstanden oder einen Lösungsweg gefunden, so können sie für die Zukunft auf dieses Wissen zurückgreifen und sich zielgerichtet verhalten.
Sie passen ihre gegenwärtigen Handlungen ihren Kenntnissen aus der Vergangenheit an und darüber hinaus blicken sie auch in die Zukunft und antizipieren Ereignisse. Das lässt sich z.B. einfach sehen, wenn sich Kühe an einem Gatter sammeln, wenn sie aus Erfahrung erwarten, zu einer bestimmten Zeit abgeholt zu werden.

Erinnerungen spielen sich im Inneren ab - wie werden sie für uns sichtbar?

Einen Blick in die Erinnerungen eines Anderen zu werfen ist nicht möglich und zwischen Menschen und anderen Tieren haben sich dadurch leider Missverständnisse mit teils tragischen Folgen abgespielt. So entludt sich z.B. der volle Zorn eines Hundebesitzers über einen Hund, der sich immer wieder "falsch" verhielt oder "nicht lernen wollte". Zum Schutze der Hunde und im Umkehrschluß wurde dann die Vorstellung verbreitet, ein Hund würde sich durch die Bestrafung nicht "verbessern", weil er sich gar nicht erinnern könnte, wofür er gestraft würde. Oder es wurde die Vorstellung verbreitet, ein älterer Hund wäre unfähig, noch etwas zu lernen. Doch all dies beruht auf Missverständnissen.
Das Kommunikationsproblem liegt viel mehr darin, dass ein Hund dazu neigt, eine Reaktion auf das, was er gerade tut, zu beziehen und nicht auf das, was er vorher getan hat. Das heißt aber überhaupt nicht, dass er sich nicht erinnern kann, was er zuvor getan hat. Für den Hund ist es einfach plausibel und naheliegend, einen bestimmten (Rück-) Schluß zu ziehen. Wenn er also von einer wilden Tour zurückkehrt und bestraft wird, dann bezieht er die Bestrafung auf sein Zurückkehren, nicht auf seine Tour. Wieso sollte er auch, denn er hat ja lediglich getan, wozu er Lust hatte und wieso sollte er auf die Idee kommen, dass das strafbar ist? So dauert es, bis der Hund merkt, worauf der Mensch hinaus will, und leidet unter für ihn unsinnigen Repressionen oder traut sich gar nichts mehr, aus Angst irgendetwas falsch zu machen.

Die gefährliche Fehlvorstellung, Tiere würden sich nicht erinnern können, hat in der agrarischen Tierausnutzung zu unvorstellbar viel Leid geführt. Keine Misshandlung eines Tieres ist ungeschehen, sondern bleibt in schmerzhafter Erinnerung. Ein entrissenes Kalb wird nicht einfach vergessen, sondern die Kuh ruft immer wieder nach ihrem verlorenen Kind. Freunde, die abtransportiert wurden, werden vermisst und überall gesucht.
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Dieses Schaf wird die Schafschur für immer als traumatisches Erlebnis in Erinnerung behalten und schon wenn die Wiederholung des Ereignisses sich auch nur andeutet, an Herzrasen und Angstzuständen leiden.
Lebenslanges Lernen

Tatsächlich sind alle erwachsenen Wirbeltiere lern- und merkfähig und das nicht nur, wenn es um die Vermeidung von Schmerz geht, sondern auch, was das Lernen von zielgerichtetem Verhalten betrifft.
Ein Hund kann in jedem Lebensalter binnen weniger Minuten etwas neues lernen - die einzige Voraussetzung ist, dass man sich soweit in ihn hineinversetzt, dass man ihm verständlich macht, worum es geht und es für ihn Spaß und Belohnung mit sich bringt.
Kennt er die Lernwege schon, so fällt es ihm leicht, noch mehr zu lernen.
Selbst Hühner aus Legebatterien, die nur ein verkümmertes und vollkommen eingeschränktes Leben geführt haben, können, wenn man sie befreit, aufblühen. Sie lernen Aufgaben zu lösen und können komplizierte Lösungswege im Kopf behalten.
Z.B. können sie lernen, die Temperatur in ihrer Unterkunft zu steuern, indem sie einen Knopf bedienen. Das zeigt, dass sie sich erinnern können, was der Knopf bewirkt und so können sie die Kausalität für sich nutzen, um das eigene Wohlsein zu steigern.

Noch einige Beispiele, wie Tiere die Vergangenheit berücksichtigen und in die Zukunft blicken:

Wenn ein Hund in Angstzustände verfällt und sich versteckt, wenn er Zuhause das Wort "Tierarzt" hört, so möchte er ein zukünftiges Ereignis verhindern, nämlich zum Tierarzt gebracht zu werden. Dieses zukunftsorientierte Verhalten zeigt er, weil er sich an einen schmerzlichen Tierarztbesuch in der Vergangenheit erinnert. Spätestens im Eingang zur Praxis lässt der Hund sich nur noch schleifen und beginnt womöglich, vor Angst zu zittern. Umgekehrt kommt es auch vor, dass ein Hund oder eine Katze sich erinnern, dass es ihnen nach einem Besuch beim Tierarzt besser ging. Wenn es ihnen wieder schlecht geht, dann gehen sie nach einer positiven Erfahrung zielstrebig auf den Tierarzt zu, um sich wieder helfen zu lassen.

Unser Hund Francis hat uns schon oft sein ausgezeichnetes Personengedächtnis bewiesen. Auch nach Jahren erinnert er sich an Personen, die einmal gut zu ihm waren.
Er erkennt sie sogar, wenn er ihnen nur ein einziges mal begegnet ist und dabei nett von ihnen behandelt worden ist - dann begrüßt er diese Person herzlich, obgleich wir Menschen uns gar nicht mehr an das Ereignis erinnern können. Vollkommen unvorbereitet bemerkt er sie sogar in Menschenmengen.

Wenn Besuch kommen soll, zieht Francis aus dem speziellem Verhalten der Menschen Rückschlüsse darauf, genau welcher Mensch kommen wird und gibt sich dementsprechend desinteressiert oder aber verfällt in freudige Erwartung vor der Tür, wenn es eine von ihm ersehnte Person ist. Mit großer Beobachtungsgabe hat er das Verhalten der Menschen studiert und sich gemerkt, WAS WANN WORAUF folgen wird. Er vermag die Spuren seiner Erinnerung zu lesen und auszuwerten.



Keine Gefangenschaft im Hier und Jetzt

Beim Gang zum Bahnhof verfällt Francis in helle Vorfreude, denn er antizipiert, dass nach einer Zugfahrt und dem anschließenden Fußgang zu einem bestimmten Haus, wo eine nette Frau wohnt, eine tolle Leckerei auf ihn wartet. Er kann sich also auf ein Ereignis freuen, dass sowohl räumlich als auch zeitlich von ihm erheblich getrennt ist. Als Hund kann er über mehrere Zwischenschritte und Handlungsketten hinaus in die Zukunft blicken. Dass er sich im Vorraus freuen kann, zeigt gleichzeitig, dass er in die Vergangenheit schauen kann und die Freude nachvollzieht, die er zuvor erlebt hat.

Auch vermögen Tiere verschiedene Erinnerungen zu kombinieren und zwischen abschreckenden und verlockenden Elementen einer bekannten Situation abzuwägen, um eine Entscheidung zu treffen. Z.B. meiden Ratten generell unangenehme Situationen, aber wenn sie gelernt haben, dass es sich lohnt, etwas Unangenehmes durchzustehen, um später etwas Lohnendes zu erleben, dann entscheiden sich einige Ratten dafür, sich etwas Ungewünschtem auszusetzen, um später etwas Gewünschtes zu erhalten. Das heißt, sie handeln in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft und nutzen dazu ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit.

Vgl. u. a.

Rachlin, Howard "Judgment, decision, and choice - a cognitive behavioral synthesis" New York: Freeman 1989

Mackintosh, Nicholas J. [Hrsg.] "Animal learning and cognition" San Diego, Calif.: Academic Press, 1994
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